CD-Präsentation: Sir András Schiff & Jörg Widmann


Johannes Brahms - Clarinet Sonatas


Zwei herausragende Musiker, der Pianist András Schiff und der Komponist und Klarinettist Jörg Widmann, sind hier erstmals auf einer gemeinsamen Aufnahme zu hören. Brahms' späten Meisterwerken, den 1894 entstandenen Klarinettensonaten op. 120, werden zeitgenössische Stücke gegenübergestellt, die eben von dem Geist der Reduktion, wie er in Brahms spätem Schaffen (insbesondere in den Opp. 116-119) vorherrschend ist, inspiriert sind: die Intermezzi für Klavier von Jörg Widmann. In tiefer Freundschaft und durch engen musikalischen Austausch verbunden, sind sie András Schiff gewidmet und liegen nun in Ersteinspielung vor.

Mit dieser neuen Aufnahme ist eine außergewöhnliche Konstellation in der Interpretationsgeschichte der Werke zu erleben: Über viele Jahre hinweg haben András Schiff und Jörg Widmann die aus der allerletzten Schaffensphase des Komponisten stammenden Sonaten op. 120 immer wieder zusammen aufgeführt. Beide tief im Repertoire der deutsch-österreichischen Klassik und Romantik verwurzelt, haben sie sich über ihre Liebe zu Brahms ausgetauscht, die Partituren entschlüsselt und dabei eine gleichermaßen innige und emotional erfüllte wie eminent strukturbewusste Lesart entwickelt.

„Stücke des Rückblicks und des Abschieds“ seien diese Sonaten, so die Musiker, dennoch mischt sich zuweilen in die resignierte Stimmung eine „fast jugendliche Freude, die sich mit der Melancholie, mit dem Abschiednehmen auf wundersame Weise vereint“.

Schwerelose Einsätze wie zu Beginn der zweiten Sonate in Es-Dur, eines dieser Werke, „die nicht beginnen, sondern schon da sind“ (Schiff), zeugen von der Gestaltungskraft der beiden Musiker, die Momente von größter Innigkeit bis hin zu impulsiven Ausbrüchen mit differenzierter Tongebung und feingliedriger Phrasierung auszuleuchten wissen.

Die Brahmssche Kunst, „mit fast nichts zu komponieren“, reduziertes Material bis aufs Äußerste auszuloten, fasziniere ihn immer wieder, bekennt Widmann. So sind die Sätze mit thematischen Bezügen eng ineinander verzahnt und kontrapunktisch verdichtet; sie entfalten sich dennoch auf ganz natürliche Weise, scheinbar ohne jede Anstrengung. Der analytische Blick des Komponisten Widmann führt uns hiermit zu einer weiteren Besonderheit der vorliegenden Aufnahme.

Für ein gemeinsames Konzert bei den Salzburger Festspielen 2010, das dem Kraftfeld von Brahms’ späten Werken mit Klarinette nachspürte, hat Jörg Widmann seinem künstlerischen Partner fünf Klavier-Intermezzi geschrieben und gewidmet; sie liegen hier in Ersteinspielung vor. András Schiff interpretiert, wenn man so will, also Widmanns komponierte Interpretation des späten Brahms. Während sich der 1973 geborene Komponist von Schiffs „Klang“ am Klavier, von dessen „Musikalität“, seiner Mischung aus „Musikantentum und reflektiertem Spiel“ angeregt fühlte, wie er in einem Einführungsgespräch zu einer Live-Darbietung des hier eingespielten Programms erklärt hat, liebt der Pianist eigenem Bekunden nach die besonders „feinsinnige“ pianistische Schreibweise und die hohen lyrischen Qualitäten der Intermezzi.

 

András Schiff und Jörg Widmann, beide maßgebende Musiker in ihrem Fach und über es hinaus, haben die beiden Sonaten schon oft gemeinsam aufgeführt. In dieser Aufnahme loten sie sie so aus, dass jeder Ton seine Farbe und sein spezifisches Gewicht gewinnt. Die dreisätzige Sonate in Es-Dur op. 120/2 und ihr viersätziges Pendant in f-Moll op.120/1 rahmen hier fünf Intermezzi ein, die Jörg Widmann in Fortschreibung der drei Klavierstücke op. 117 von Brahms komponiert und die Schiff 2010 uraufgeführt hat. Sie ordnen sich spiegelbildlich um einen dunklen Glutkern und finden über die Zeiten hinweg ins Gespräch mit Brahms.

Manfred Papst, Neue Zürcher Zeitung am Sonntag

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©Fritz Etzold

„Zart singend“ lautet eine Vortragsbezeichnung, die sich Widmann bei Brahms geborgt hat. „Ich habe versucht, einen wirklich singenden Klaviersatz zu schreiben. Jahrelang habe ich mich tatsächlich nicht getraut, ein Stück zu komponieren, das so hemmungslos singt“, sagt Jörg Widmann. Der Bezug aufs Vokale hängt unmittelbar mit der besonderen Kantabilität der späten Werke Brahms’ zusammen. Seine eigenen Intermezzi op. 117 (deren berühmtes erstes in Es-Dur Widmann in seinem vierten Stück anklingen lässt) hat Brahms auch als „Wiegenlieder meiner Schmerzen“ bezeichnet. Wehmütiges Abschiednehmen und eine intensive Melancholie voller „Wollust und Behagen“ (Brahms über sein op. 119) verbinden sich in den späten Klavierstücken opp. 116 bis 119 mit außergewöhnlich strenger Materialökonomie und einer beinahe altmeisterlichen satztechnischen Kunst.

 

Wohl kein Komponist der Gegenwart versteht es so wie Jörg Widmann, den spezifischen Ton und die instrumentale Schreibweise großer Vorgänger produktiv aufzugreifen, aber auch deren Poetik zu erspüren. Widmann verwandelt sich den Sprachduktus des späten Brahms an, als wäre er eine in sich reich differenzierte Sprache. Er macht sich diese Sprache auf eine Weise zu eigen, die es ihm erlaubt, sehr persönliche und ganz und gar gegenwärtige Aussagen damit zu treffen. Das Bekenntnis zum Prinzip musikalischer Intertextualität – „kein heute zu schreibender Text ist ohne die Gesamtheit aller bestehender Texte denkbar“ – eröffnet die Möglichkeit, das Eigene mit dem Vorgefundenen in Beziehung zu setzen, Neues und Vertrautes ineinander zu spiegeln und dabei in die technischen und mentalen Tiefenschichten individueller Kompositionsstile einzudringen.

Naturgemäß beziehen sich Widmanns Intermezzi zunächst auf Brahms’ späte Klavierstücke opp. 116 bis 119. Doch auch die anderen Arbeiten der letzten Schaffensphase des Meisters wirken anregend. Brahms, der einstige Symphoniker, der selbstkritische Erbe der deutschen Musiktradition von Schütz bis Beethoven, fasst seine Beschränkung auf die aphoristisch verknappte Miniatur mit dem Begriff des gleichsam transitorischen „Zwischenspiels“. Das ist insofern nicht ohne Ironie, als Brahms sein eigenes Œuvre zu Beginn der 1890er Jahre, mit noch nicht einmal sechzig Jahren, eigentlich schon für beendet hielt. Die Intermezzi sind also im Grunde „Postludien“ – Nachspiele voller Wehmut.

Brahms’ Freundschaft mit Richard Mühlfeld, dem Klarinettisten der Meininger Hofkapelle, von 1891 an, war es, die seine Kreativität erneut anfachte. So entstanden das Klarinettentrio op. 114 und das Klarinettenquintett op. 115. Mühlfeld, Jahrgang 1856, hatte als Geiger begonnen und sich dann autodidaktisch zum Klarinettisten ausgebildet; 1876 spielte er im ersten Bayreuther „Ring“ im Orchester und erregte sogleich die Aufmerksamkeit Richard Wagners. 1879 wurde er als Soloklarinettist der Meininger Hofkapelle engagiert, die Hans von Bülow ab 1880 dann rasch zu einem Elite-Klangkörper formte.

 

 

Schiffs achtsam gereifte Brahms-Erfahrung und die Flexibilität Widmanns in Intonation und Phrasierung gehen eine traumwandlerische Symbiose ein -

austariert zwischen dramatischem Kontrastverlangen und der Lust nach lyrischen Verschmelzung. 

Wolfgang Schreiber, Süddeutsche Zeitung

 

Sir András Schiff, 1953 in Budapest geboren, nimmt seit Ende der 1990er für ECM auf. Neben der viel beachteten Gesamteinspielung der 32 Klaviersonaten Ludwig van Beethovens und dessen „Diabelli-Variationen“, den Bach’schen Goldberg-Variationen und dem Wohltemperierten Clavier umfasst seine viel beachtete Label-Diskographie u.a. Werke von Schumann, Janáček und vor allem Franz Schubert, dessen Sonaten und Klavierwerke er auf einem historischen Hammerklavier eingespielt hat.

Jörg Widmann, 1973 in München geboren, ist als Komponist und Klarinettist bei ECM mit mehreren Titeln vertreten. 2011 erschien Elegie mit Widmanns „Messe“ für Orchester (Ltg.: Christoph Poppen), und den „Fünf Bruchstücken“ für Klarinette und Klavier (mit Heinz Hollger, Klavier). 2018 folgte das zur Eröffnung der Hamburger Elbphilharmonie komponierte Oratorium „Arche“ unter Leitung von Kent Nagano. Auf Strata mit Werken von Erkki-Sven Tüür (2010) ist Widmann an der Seite seiner Schwester Carolin überdies in dem Doppelkonzert „Noesis“ zu hören.


Quellen: ECM NEW SERIES